Der Waliser Gareth Evans hat sich vor allem mit den furiosen indonesischen Action-Krachern „The Raid“ 1 und 2 einen Namen gemacht, wobei gerade der zweite Teil ein stylischer, perfekt durchchoreographierter und inszenierter Adrenalinrausch ohne Verschnaufpause ist. Nun hat er sich für den Streaming-Service Netflix erstmals einem anderen Genre zugewandt und den Horror-Film „Apostle“ gedreht.
Die Tochter einer wohlhabenden Familie wurde von einer auf einer abgelegenen Insel lebenden Einsiedler-Sekte entführt, um vom Familienoberhaupt Lösegeld zu erpressen. Dieser soll ausschließlich persönlich auf die Insel reisen, entscheidet sich aber stattdessen dafür, seinen öffentlich für tot gehaltenen Sohn zu schicken, um die Tochter aus den Händen der Entführer zu befreien und Geld zu sparen. Kurz vor Fährantritt vertauscht der Sohn also subtil sein speziell markiertes Reiseticket mit dem eines älteren Herren, dessen Koffer sodann mit einem X gekennzeichnet wird und welcher folglich fälschlicherweise als der reiche Vater der Geisel vermutet wird. Pech für den Greis, schließlich läuft seine Befragung durch die Gruppenanführer bezüglich des Lösegeldes ähnlich friedlich ab wie Verhöre saudi-arabischer Journalisten in Istanbuler Konsulaten. Aber auch abgesehen davon gewinnt der Zuschauer schnell den Eindruck, dass in dem religiös-kommunistischen Dorf – alle Passagiere werden schon auf der Überfahrt mit Brother und Sister begrüßt – einiges im Argen liegt. Ein Schaf wird mit klaffenden, offenen Wunden geboren, die Siedler werden allabendlich zum Aderlass gebeten und der autoritäre Vorsteher der Siedlung wird als Prophet einer neuen Gottheit kultisch verehrt. Als Thomas Richardson (Dan Stevens) dann seine Schwester ausfindig macht, die als Blasphemistin zum öffentlichen Sündenbock gebrandmarkt wird, eine verbotene junge Liebe inklusive geheim gehaltener Schwangerschaft auffliegt, ein Mordanschlag auf den Anführer nur knapp vereitelt werden kann und dessen Bruder die neue Führer-Rolle an sich zu reißen versucht, beginnt die Einheit und die Fassade der utopistischen Dorfgemeinschaft zu bröckeln, zudem offenbart sich allmählich, dass im Hintergrund noch ganz andere Mächte am Werk sind.
Evans‘ Wurzeln im knallharten und ultrabrutalen Martial-Arts-Action-Kino sind auch bei „Apostle“ deutlich zu spüren. Im Verlauf der Handlung kommt es doch zu der ein oder anderen physischen Auseinandersetzung; diese sind zwar nicht ganz so virtuos inszeniert wie bei „The Raid“, dennoch ist der Stil der entfesselten, aber trotzdem nicht herumwackelnden Kameraführung und der in schnellen Schwenks versteckten Schnitte unverkennbar. Wenn auch „Apostle“ nicht ganz an die Dynamik und Explosivität der Evans-Vorgänger heranreicht, so steht er in Sachen Blutigkeit und Gewaltdarstellung in nichts nach. Ein von fünf Speeren gleichzeitig durchsiebter Mann, ein mit einem dicken Kolben durchbohrter Schädel und ein wortwörtlicher Blutfluss sind nur eine Auswahl der zahlreichen expliziten Brutalitäten, mit denen der Zuschauer konfrontiert wird. Gelungene Sound-Effekte und ein passender Score verdichten die spannende und stets leicht beunruhigende Atmosphäre zusätzlich. Leider tappt der Film jedoch manchmal auch unnötigerweise in die Kiste abgegriffener Horror-Klischees wie das stumm im Gang stehende Kind oder durch extrem hohe Lautstärke erzeugte jump scares, auch das Drehbuch mit seinen teilweise recht plumpen Dialogen weiß nicht vollständig zu überzeugen. Dennoch ist „Apostle“ ein durchaus sehenswerter Genre-Vertreter, der mit seinen okkulten und (über)natürlichen Öko-Elementen an „The Wicker Man“ und „The Witch“ sowie stellenweise auch an „Silent Hill“ erinnert und zumindest ansatzweise auch als Untersuchung von Machtstrukturen und religiösem Fanatismus interessant ist.
8/10